Praktische Konkordanz versus autonomiesichernde Funktion der von GG wegen unmittelbares Recht gegen die öffentliche Gewalt bildenden unverletzlichen Grundrechte des Bonner Grundgesetzes

Mit dem Inkrafttreten des Bonner Grundgesetzes am 23.05.1949 war es gelungen, eine Verfassung aus der Taufe gehoben zu haben, die es verdiente, die ranghöchste Rechtsnorm der Bundesrepublik Deutschland zu bilden. Die unverletzlichen Grundrechte bilden seitdem unmittelbar geltendes Recht sowohl gegen den Gesetzgeber als auch die vollziehende und rechtsprechende Gewalt und fungieren aufgrund dessen von Grundgesetzes wegen automatisch im Verletzungsfall unmittelbar als Abwehrrecht eines jeden einzelnen Grundrechteträgers und zwar sowohl gegen den jeweiligen hoheitlich daherkommenden Verletzer als auch gegen dessen staatliche Institution bis zur Wiederherstellung des unverletzten Zustandes und zwar in jedem Einzelfall.

Diese einzigartige Wirkweise des Bonner Grundgesetzes ist bis heute jedoch der ganz überwiegenden Mehrheit der bundesdeutschen Bevölkerung unbekannt geblieben. Anders sah es da quasi von Anfang an in den Reihen derer aus, gegen die sich die unverbrüchlichen Rechtsbefehle des Bonner Grundgesetzes bis heute dem Wortlaut und Wortsinn der ranghöchsten Rechtsnorm der Bundesrepublik Deutschland richten.

Am 08.11.1950 kam es zu einem bis heute bedeutungsvollen Vortrag des damaligen ersten Bundesinnenministers Gustav Heinemann im Kabinett Adenauer aus dem die folgende Protokollnotiz stammt:

»Es sei einmütig erklärt worden, daß bei unveränderter Aufrechterhaltung der im Grundgesetz verankerten Grundrechte durchgreifende Maßnahmen nicht getroffen werden können. Es müsse deshalb eine Änderung des Grundgesetzes in Erwägung gezogen werden.« Gustav Heinemann, 89. Kabinettssitzung am 11. August 1950

In diesem Zitat steckt drin, was weder der Gesetzgeber noch die vollziehende und rechtsprechende Gewalt bis heute zu akzeptieren bereit ist, nämlich unverbrüchlich gebunden zu sein an die unverbrüchlichen Rechtsbefehle des Bonner Grundgesetzes einschließlich der unmittelbar geltendes Recht gegen die öffentliche Gewalt bildenden unverletzlichen Grundrechte, anstatt wie bis dahin gewohnt gewesen, dem Grunde nach getan und gelassen gehabt zu haben, was man wollte.

Kritisch sieht Prof. Andreas Fischer-Lescano die eingeführte Anwendung der aus dem 12. Jahrhundert im katholischen Kirchenrecht entwickelte praktische Konkordanz im bundesdeutschen Verfassungsrecht bezüglich der von Grundgesetzes wegen installierten und nicht antastbaren  Wirkweise der Grundrechte:

„Indem die Grundrechte zu obersten Prinzipien erhoben wurden, die auf Optimierung dringen, sollen sie in ihrer Tendenz die Richtung der gesamten Rechtsbildung bereits enthalten. Die grundrechtlichen Garantien werden durch die Prinzipentechnik abhängig von Einzelfall bezogener Abwägung wie gesetzgeberischer Kollisionslösung im Sinne praktischer Konkordanz. Grundrechtliche Schranken und Schranken-Schranken sind so kaum noch konzipierbar. […] Über die Wechselwirkung der Grundrechte und der sie einschränkenden Gesetze werden gerade die Grundrechtsschranken zu Einfallstoren für repressive Abwägungsmechanismen. […] Die Zuordnung der verschiedenen Grundrechtspositionen in multipolaren Konfliktlagen kann dann gar dazu führen, dass den Grundrechten zumindest mittelbar Pönalisierungspflichten entnommen werden. Die ursprünglich autonomiesichernde Funktion der Grundrechte wird in ihr Gegenteil verkehrt.“ (Volltext hier)

Die Systematik „praktische Konkordanz“ nach Konrad Hesse aus dem 12. Jahrhundert als unscheinbar daherkommendes Mittel der staatlichen Verfassungslehre  zum Zweck, um nämlich die unverbrüchliche Wirkweise der im Bonner Grundgesetz unverbrüchlich verankerten Freiheitsgrundrechte gegen die öffentliche Gewalt vorrangig als Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat und seine Institutionen zum Nachteil aller Grundrechteträger faktisch leerlaufen zu lassen ohne sich am Wortlaut eines einzelnen Grundrechtetextes vergriffen zu haben.

Rechtsstaat auf dem Boden des Bonner Grundgesetzes trotzdem seit 69 Jahren – Fehlanzeige -.

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