Das Unglück muß so ungeheurlich sein, daß die Verzweiflung, der Wehruf und Notschrei der Massen trotz aller Hinweise auf uns Schuldige sich gegen jene richten muß, die sich berufen fühlen, aus diesem Chaos ein neues Deutschland aufzubauen.

»Sollte uns der Sprung in die große Macht nicht gelingen, dann wollen wir unseren Nachfolgern wenigstens eine Erbschaft hinterlassen, an der sie selbst zugrunde gehen sollen. Das Unglück muß so ungeheurlich sein, daß die Verzweiflung, der Wehruf und Notschrei der Massen trotz aller Hinweise auf uns Schuldige sich gegen jene richten muß, die sich berufen fühlen, aus diesem Chaos ein neues Deutschland aufzubauen. Das ist meine letzte Berechnung.« Goebbels letzter Tagebucheintrag

1947 hat man sich klammheimlich von damals Amts wegen entschlossen, die ersatzlos untergegangene NS-Rechtsordnung des Massenmörders Adolf Hitler und seiner braunen Spießgesellen fortzuführen und das auf der Basis von sogenanntem purifizierten nationalsozialistischen Recht, frei nach der Devise, es war doch nicht alles schlecht zwischen 1933 und 1945. (Quelle: u. a. Laage, C., Die Auseinandersetzung um den Begriff des gesetzlichen Unrechts nach 1945, in: Redaktion Kritische Justiz (Hg.), Die juristische Aufarbeitung des Unrechts-Staats, Baden-Baden 1998, S. 265-297.)

Rede des Parlamentarischen Staatssekretärs bei der Bundesministerin der Justiz, Alfred Hartenbach, anlässlich der Eröffnung der Ausstellung »Im Namen des Deutschen Volkes – Justiz und Nationalsozialismus« am 26. September 2007 in Kassel

Es gilt das gesprochene Wort!

Anrede!

Es ist mir eine große Freude, diese Ausstellung heute zusammen mit Ihnen hier in Kassel eröffnen zu dürfen. Frau Bundesministerin Zypries hat mich gebeten, Ihnen ihre herzlichen Grüße auszurichten. Sie wäre schon aus alter Verbundenheit heute sehr gerne selbst nach Kassel gekommen. Leider ist ihr das nicht möglich, da sie heute Nachmittag an der Sitzung des Bundeskabinetts teilnehmen musste. Dass die Ausstellung in diesen Wochen auch in Kassel zu sehen sein wird, freut mich besonders. Die Ausstellung hätte eigentlich schon in diesem Jahr ihre letzte Station in Berlin machen und dort dauerhaft verbleiben sollen. Dass es anders gekommen ist, verdanken wir nicht zuletzt der Initiative des vormaligen Amtsgerichtspräsidenten, Dr. Hornung, die Sie, sehr geehrter Herr Dr. Löffler, als Nachfolger aufgenommen und weitergeführt haben.

I.

Das Bundesministerium der Justiz hat diese Ausstellung Mitte der 80er Jahre während der Amtszeit von Justizminister Hans Engelhard erarbeitet und 1989 in Berlin zum ersten Mal der Öffentlichkeit vorgestellt. Der heutige Präsident des Bundesamtes für Justiz, Herr Fieberg, der ebenfalls hier ist, hat damals ganz wesentlich an der Gestaltung der Ausstellung mitgewirkt. Inzwischen wurde sie mit großer Resonanz an 42 Orten in Deutschland gezeigt, darunter auch schon einmal in Hessen: 1991 in Frankfurt. Die heutige Eröffnung markiert die 43. Station. Wenn diese Ausstellung nun erneut gezeigt wird, provoziert das immer wieder die Frage: Warum können wir nach so langer Zeit dieses Kapitel nicht endlich schließen? Solche Fragen und die dazugehörige »Schlussstrich-Mentalität« sind inzwischen weit verbreitet. Immer lauter und selbstbewusster wird betont, dass es auch einmal genug sein müsse. Berechtigt wäre aber umgekehrt die Frage, warum so lange und so beharrlich geschwiegen und geleugnet wurde und warum es so lange dauern musste, bis eine eingehende öffentliche Beschäftigung mit der Rolle der Juristen im Nationalsozialismus eingesetzt hat. Diese Ausstellung war 1989 – 44 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs – der erste justizeigene Beitrag überhaupt zur Auseinandersetzung mit der NS-Justiz. Von Anfang haben die Deutschen gefordert, einen Schlussstrich zu ziehen. Schon in den »Entnazifizierungsfragebögen« der US-Armee, also schon kurz nach Kriegsende, findet sich die wohl exemplarische Äußerung eines Richters – Zitat –: »Einmal muss mit diesem Dreck« – gemeint waren die Fragen nach dem Verhalten während des Nationalsozialismus – »Schluss sein.« Wer die Rolle der Justiz im Nationalsozialismus trotzdem zur Sprache brachte, wurde und wird nicht selten vorauseilend ermahnt, sich ja kein Urteil über die damalige Zeit anzumaßen. Es sei um Pflichterfüllung und reine Gesetzestreue gegangen und darum, die noch vorhandenen wenigen »Inseln des Rechtes« vor den Nazies zu schützen. Jeder Widerstand hätte Todesmut erfordert und wäre obendrein zwecklos gewesen. Trotzdem sei die Justiz soweit wie möglich »sauber und standhaft geblieben« und sei im Übrigen – so die oft gehörte Erklärung – nicht zuletzt selbst Opfer »Hitlers und seiner Verbrecherbande« geworden. Bevor man die Frage, zu was es damals gekommen ist, stellen und beantworten kann, wird einem abschließend erklärt, wieso niemand etwas dafür könnte. Diese Ausstellung soll den Besuchern ermöglichen, sich frei von jedem Rechtfertigungspathos vor allem an Hand der Quellen ein eigenes Bild zu machen. Der apologetische Hinweis auf das, was »unter den damaligen Verhältnissen« angeblich nicht getan werden konnte, soll nicht den Blick davon ablenken, was tatsächlich getan wurde, wie sich Richter und Staatsanwälte, Ministerialbeamte und Rechtsanwälte verhalten haben. Ich meine: Bevor man sich der Frage zuwendet, wie das denn alles möglich war, muss man den Versuch unternehmen, im Einzelnen zu verstehen, was der Fall war.

Die Ausstellung versammelt über 2000 Dokumente, dazu Bilder und Begleittexte. Das ist natürlich viel mehr als man bei einem Rundgang erfassen und verarbeiten kann. Ich möchte Sie ermutigen, sich einzelne Dokumente auszusuchen und sich darin zu vertiefen, auch wenn das heißt, dass Sie sich viele andere nicht genauer ansehen können. Die Gesetze und Urteile, Erlasse und Berichte können uns eindrücklich über die damaligen Ereignisse Aufschluss geben. Sehr empfehlen kann ich auch unseren Ausstellungskatalog, in dem zahlreiche Bilder und Dokumente abgedruckt sind.

II.

Das Bekenntnis zum Nationalsozialismus musste großen Teilen der Richterschaft nicht aufgezwungen werden. Dieses Bekenntnis, so haben es die Rechtshistoriker Diestelkamp und Stolleis formuliert, entsprach den politischen Ansichten der Richterschaft: Ansichten, die in der Regel republikfeindlich, deutschnational grundiert und mit einem in bürgerlichen Kreisen weit verbreiteten und als normal empfundenen Antisemitismus versetzt waren. Nachdem es 1933 zur Machtübergabe an Hitler gekommen war, begann eine Art Wettlauf der Richter, sich rechtzeitig – Zitat –: »in die gemeinsame Kampffront unter Führung des Reichskanzlers Adolf Hitler« einzureihen. Deutscher Richterbund und Preußischer Richterverein beeilten sich, im März 1933 Ergebenheitsadressen an die neue Regierung zu richten und ihre Mitarbeit am »nationalen Aufbauwerk« anzubieten (Katalog, S. 89 ff). Die meisten Kasseler Richter und Staatsanwälte wurden im Frühjahr 1933 – aus Überzeugung oder aus Opportunismus – Mitglied der NSDAP. Beim Juristentag im Oktober 1933 schwörten 10 000 Juristen vor dem Reichsgericht in Leipzig mit erhobenem rechten Arm – Zitat –, »bei der Seele des deutschen Volkes (…) unserem Führer auf seinem Wege als deutschen Juristen folgen zu wollen bis an das Ende unserer Tage.« (Katalog, S. 89) Die Justiz betrieb ihre Selbstgleichschaltung und zeigte sich auf allen Rechtsgebieten willfährig. Sie war nicht Handlangerin der Nationalsozialisten, sondern von Anfang bis Ende eine Säule des nationalsozialistischen Herrschaftssystems. Vielfach dokumentiert und veröffentlicht ist dies für die Strafjustiz. Das Sondergericht beim OLG Kassel etwa verurteilte in der Zeit von April bis September 1933 in 97 Fällen Bürger wegen »politischer Verbrechen«. 1935/36 verurteilte das OLG Kassel in jedem Vierteljahr 80 bis 90 Personen wegen »Vorbereitung zum Hochverrat«. Aber auch in den Zivilrichtern, die in der Nachkriegszeit allesamt als unbelastet galten, fanden die Nationalsozialisten nur allzu willige Vollstrecker. Der »Siegeszug rasserechtlichen Denkens« setzte gleich 1933 ein, ohne dass ein einziges Gesetz geändert werden musste. Wo die Gesetze nicht zur nationalsozialistischen Ideologie passen, wurde das Recht von den Gerichten gebrochen. Das geht so weit, dass ausgerechnet Roland Freisler, damals noch Staatssekretär im preußischen Justizministerium, sich veranlasst sieht, die Gerichte zu bremsen. Es ist der spätere berüchtigte Präsident des Volksgerichtshofs, der die Richterschaft darauf hinweist, dass es nicht ihre Aufgabe sein könne, gegen das Gesetz zu entscheiden, auch dann nicht, wenn sie das geschriebene Gesetz mit nationalsozialistischen Auffassungen für unvereinbar hielten (Katalog, S. 138). Allerdings gibt Freisler auch einen deutlichen Fingerzeig, wie man ohne offenen Gesetzesbruch zum gewünschten Ergebnis kommen könne. Er verlangt, dass die Richter die Gesetze »richtig« anwenden und ihr Auslegungsergebnis nochmals gründlich prüfen, sollte es im Widerspruch zur nationalsozialistischen Ideologie stehen.
• Die Ausstellung dokumentiert die gesetzeswidrige Rechtsprechung der Zivilgerichte bei Aufgebotsverfahren (Katalog, S. 139). Nach damals noch geltendem Recht konnte die Eheschließung nicht aus dem Grund verweigert werden, dass einer der zukünftigen Ehepartner Jude war. Die Gerichte setzten sich darüber hinweg. Der Einwand, es gebe kein entsprechendes gesetzliches Eheverbot »entspringe typisch jüdisch-liberalistischen Moral- und Rechtsvorstellungen«, heißt es in einer Entscheidung von 1935. Das Gericht stellte dem geltenden Gesetz eine »nationalsozialistische, arteigene« Rechtsanschauung entgegen und verweigerte die Eheschließung.
• Ich will ein weiteres Urteil, abgedruckt in der Juristischen Wochenschrift von 1936, wenigstens kurz erwähnen: Ein jüdischer Filmregisseur hatte 1933 mit einer Produzentenfirma einen Regisseurvertrag geschlossen. Die Produzentenfirma hat das Recht, im Fall von Krankheit, Tod oder ähnlichem Grund vom Vertrag zurückzutreten. Die Firma tritt vom Vertrag zurück – im Streit über die Wirksamkeit erklärt der Richter, der Regisseur als Jude und Angehöriger einer minderwertigen Rasse, besitze im Vergleich zu einem Arier so wenig Rechtspersönlichkeit, dass dies mit dem Rücktrittsgrund Krankheit oder Tod gleichzusetzen sei. Übrigens: Der Richter weist auch auf die historische Rechtsfigur des bürgerlichen Todes hin. Und dem bürgerlichen Tod vor deutschen Gerichten folgte später die reale Ermordung. (Katalog, S. 142 f.)

III.

Solche Urteile gab es viele. Die Entscheidungen waren nach Kriegsende in Gerichtsarchiven oder in veröffentlichten Entscheidungssammlungen zugänglich. In der Bundesrepublik konnte sich gleichwohl lange das Bild einer »leidenden Justiz« halten, die in ein »böses System« geraten und ihm – aufgrund des rechtswissenschaftlichen Positivismus, also der strengen und uneingeschränkten Bindung des Richters an das geschriebene Recht – in gewisser Weise ausgeliefert war. Wie die Deutschen in ihrer Mehrheit haben sich auch die Richter vor allem als Opfer oder gar Gegner des Nationalsozialismus gesehen. Jeder Versuch einer Aufarbeitung der NS-Justiz, angefangen mit der Entnazifizierung, tat ihnen in ihren Augen deshalb nur weiteres Unrecht.

Die Ausstellung entlarvt diese Lebenslüge der damaligen Richterschaft, die mir aus den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg noch in den Ohren klingt: »Wir haben doch nur dem geltenden Recht gehorcht, das Gesetz angewandt.«

Die Quellen sprechen eine andere Sprache. Rechtsstaatliches Denken, Unabhängigkeit der Justiz, ihre Verpflichtung auf Recht und Gesetz und den Schutz beleidigter, angegriffener und verfolgter Menschen – sie verschwanden. Stattdessen zeigt sich eine richterliche Überaktivität, die auch noch der kleinsten menschlichen Regung für Verfolgte und gegen den Krieg galt.

Der Grund dafür? Lebensgefahr, wenn sich Richter und Staatsanwälte entzogen oder verweigert hätten? Auch das gehört zur lange überlieferten Lebenslüge. Die Mehrheit, so schildert es ein Hamburger Landgerichtspräsident aus jenen Jahren rückblickend, die Mehrheit der Juristen hat sich schlicht angepasst, – Zitat – »da sie sich nicht von vorneherein laufbahnmäßig ausschalten will«. In Preußen beispielsweise sind es gerade einmal ca. 300 Justizbeamte, die zumeist aus politischen Gründen entlassen oder zwangsversetzt werden – von insgesamt 45.000 Justizbeamten.

IV.

Es soll nicht aus den Augen verloren werden, dass die Nationalsozialisten 1933 nach der Machtübergabe an Hitler sehr schnell und brutal daran gingen, ihre politischen Gegner zu beseitigen und jüdische Bürger zu verfolgen. Was von den Nationalsozialisten völkische Revolution genannt wurde, war blanker Terror und überall in Deutschland zu spüren. Nach der Reichstagswahl am 5. März 1933 zogen vielerorts SA-Posten vor den Gerichten auf, um jüdischen Richtern und Rechtsanwälten das Betreten der Gerichtsgebäude zu verwehren. Roland Freisler zog mit seinen Anhängern am 25. März 1933 vor das Kasseler Gerichtsgebäude und ließ unter großem Beifall über dem Hauptportal eine Hahnenkreuzfahne anbringen. Tags zuvor hatten sie das Rathaus gestürmt. Ebenfalls am 24. März wurde der jüdische Rechtsanwalt Dr. Max Plaut in das Hauptversammlungslokal der NSDAP geschleppt und dort schwer misshandelt. Er starb kurze Zeit später an seiner Verletzung. Am selben Ort wurde auch der jüdische Rechtsanwalt Julius Dalberg schwer zugerichtet. Dalberg überlebt den Angriff. Er wurde 1943 in das Vernichtungslager Sobibor (Polen) deportiert, wo sich seine Spur verliert.

Der Schrecken dieser Geschehnisse hinterließ auf Dauer seine Wirkung aber auch auf die Justizjuristen. Es gab sicher auch Juristen, die sich aus Angst um ihre gesicherte Existenz anpassten und mitmachten. Das galt umso mehr, als die berufliche Situation für Juristen damals nicht einfach war. In den zwanziger Jahren war die Zahl der Jurastudenten stark angestiegen. Es waren mehr Juristen auf dem Arbeitsmarkt als benötigt wurden, zumal der Staat zeitweise einen Einstellungsstopp verhängt hatte. Die schlechte Wirtschaftslage und die desolaten Staatsfinanzen hatten sich auch in der Justiz deutlich spürbar gemacht. 1932 wurden im OLG-Bezirk Kassel 17 Amtsgerichte aufgehoben und ihre Bezirke anderen Amtsgerichten zugeteilt. Auch das mag manchen bewogen haben, sich anzupassen.

Hinzu kam während der Kriegsjahre sicherlich auch die Angst, eingezogen und an die Front abkommandiert zu werden, so wie es hunderttausenden anderen erging, die nicht Dank Herkunft und Ausbildung das Privileg hatten, in der Justiz weiterarbeiten zu können. Niemand wird von sich selbst mit letzter Sicherheit sagen können, ob er in einer solchen Situation standhaft geblieben wäre. Denjenigen, die den Fronteinsatz in Kauf genommen und dafür häufig mit ihrem Leben bezahlt haben, gebührt unsere Achtung. Manchen fehlte es dagegen an Mut und Zivilcourage. Dies einzugestehen – nicht einmal dazu war aber die große Mehrheit der Juristen nach dem 2. Weltkrieg bereit. Stattdessen stilisierte man sich als Opfer oder gar Gegner des Nationalsozialismus. Dass dies inzwischen nicht mehr unwidersprochen bleibt, wie es der Fall Filbinger gezeigt hat, ist zu einem gewissen Teil auch ein Verdienst dieser Ausstellung.

V.

Es gab aber auch mutige Juristen, die den Widerstand gewagt haben, freilich nur wenige. Es gab sie – wahrscheinlich auch hier – auch an sie erinnern wir. Wir erinnern an den Vormundschaftsrichter Lothar Kreyssig, der sich in Brandenburg offen dagegen gewehrt hat, am Euthanasieprogramm mitzuwirken und der Strafanzeige wegen Mordes gegen den Reichsleiter der SS gestellt hat. Kreyssig fährt mehrfach nach Berlin und stellt dort den Reichsjustizminister Gürtner und dessen Staatssekretär Freisler wegen der Mordaktion persönlich zur Rede. Übrigens: Kreyssig wurde nicht ermordet oder auch nur eingesperrt, sondern wegen seines Widerstandes 1942 in den Ruhestand versetzt. (Katalog, S. 300 f.)

Wir erinnern auch an Martin Gauger, Gerichtsassessor aus Elberfeld, später Staatsanwalt, der entsetzt über die Verbrechen der Nazis schon 1934 aus christlicher Überzeugung den Eid auf Hitler verweigert. Das bringt ihm die Entlassung aus dem Justizdienst. 1940 flieht er vor der Einberufung in die Wehrmacht durch Flucht nach Holland, wo er der SS in die Hände fällt. Martin Gauger wird 1941 im KZ Buchenwald ermordet. (Katalog, S. 300 f.)

Für Kassel berichtete beispielsweise Elisabeth Selbert, die ihrerseits eine mutige Juristin und von der Gestapo überwacht wurde, von integeren Strafrichtern, mit denen sie als Strafverteidigerin absprach, dass gegen ihren Mandanten eine Freiheitsstrafe verhängt wurde. Bei einem Freispruch hätte ihn die Gestapo mitgenommen und in ein Konzentrationslager verschleppt. Elisabeth Selbert berichtete, dass Richter in den Anfangsjahren versucht haben, sich den Pressionen der Gauleiter zu entziehen. Einige seien in Pension oder zum Militär gegangen.

VI.

Die Aufarbeitung ihrer Rolle in der Nazizeit wäre auch die Aufgabe der Justiz in den letzten 50 Jahren gewesen.

Die Aufarbeitung fand in der Bundesrepublik kaum statt. Der BGH hat in seinem bekannten Urteil von 1995 mit befreiender und überfälliger Deutlichkeit festgestellt, dass die strafrechtliche Aufarbeitung der NS-Justiz in der alten Bundesrepublik fehlgeschlagen ist. Verantwortlich dafür, so der BGH, war nicht zuletzt die frühere Rechtsprechung des Gerichts selbst.

Die Ausstellung dokumentiert auch das: Die mangelhafte und unvollständige Geschichte der Aufarbeitung des NS-Unrechts. Den Einfluss der Richter und Staatsanwälte, die willige Vollstrecker unter Hitler waren, und in weiten Bereichen auch die Nachkriegsjustiz beherrschten.

Bekannt und auch in unserer Ausstellung dokumentiert ist der Freispruch zweier Kasseler Sonderrichter, die 1943 den Ingenieur Werner Holländer wegen Rassenschande zum Tode verurteilt hatten. Weil die Entscheidung selbst nach den damaligen Maßstäben kaum zu rechtfertigen war, hatte die Staatsanwaltschaft Kassel sie wegen Rechtsbeugung angeklagt. Der BGH bestätigte 1952 den Freispruch durch das Landgericht Kassel und strich die in der erstinstanzlichen Entscheidung noch ausgesprochene »moralische Verurteilung«. Als überzeugten Nationalsozialisten sei ihnen eine wissentliche und willentliche Rechtsbeugung nicht nachzuweisen.

Zu nennen sind in diesem Zusammenhang auch die unerträgliche Langsamkeit der Entschädigungsregelungen, die viel zu späte Einrichtung der Ludwigsburger Zentrale, die langwierige Vorbereitung der KZ-Prozesse.

Sehr lange, bis 1998, brauchte es auch bis zur Aufhebung von NS-Unrechtsurteilen und der Rehabilitierung der Verfolgten. Noch heute sind Verurteilungen wegen »Kriegsverrats« nicht pauschal aufgehoben. Eine neue Veröffentlichung hat u. a. darauf aufmerksam gemacht, dass schon ypazifistische Propagandax zu einer Verurteilung wegen Kriegsverrats führen konnte. Ich finde es deshalb richtig, sich zu überlegen, ob auch für diesen Tatbestand eine pauschale Aufhebung vorgesehen werden sollte.

Starken Einfluss auf diesen Umgang mit der NS-Justiz im Westen hatte der militante Antikommunismus der Nachkriegsjahre und des Kalten Krieges. Der frühere Bundestagspräsident Rainer Barzel hat 1965 die entsprechende Geisteshaltung einmal so auf den Punkt gebracht: »Hitler ist tot, Ulbricht lebt.«

Von Anfang an wurde im Zeichen des Kampfes gegen den als unmittelbare Bedrohung empfundenen Kommunismus Nachsicht im Umgang mit der Vergangenheit verlangt. Vielfach übrigens auch von denen, die selbst in Gegnerschaft zum Nationalsozialismus gestanden hatten.

Der einzige gerichtliche Versuch, die Rolle der Justiz im Nationalsozialismus als ganzes, als System unter strafrechtlichen Gesichtspunkten aufzuarbeiten, wurde mit dem so genannten Nürnberger Juristenprozess unternommen. In seinem Urteil zeigte der Militärgerichtshof auf, wie die Justiz zu einem willfährigen Instrument der Vernichtungspolitik des NS – Regimes wird. Die Teilnahme der Angeklagten an diesem »Programm« ist der Kern des Vorwurfs, der zu den Verurteilungen führt. Ich zitiere aus dem Urteil: »Die Angeklagten sind solch unermesslicher Verbrechen beschuldigt, dass bloße Einzelfälle von Verbrechenstatbeständen im Vergleich dazu unbedeutend erscheinen. Die Beschuldigung, kurz gesagt, ist die der bewussten Teilnahme an einem über das ganze Land verbreiteten und von der Regierung organisierten System der Grausamkeit und Ungerechtigkeit unter Verletzung der Kriegsgesetze und der Gesetze der Menschlichkeit, begangen im Namen des Rechts unter Autorität des Justizministeriums und mit Hilfe der Gerichte. Der Dolch des Mörders war unter der Robe des Juristen verborgen.«

Meine sehr geehrten Damen und Herren, diese Ausstellung will anhand der Quellen aufzeigen, was damals geschehen ist, wer Opfer war und wer Täter. Erst dann, wenn wir dies zur Kenntnis genommen haben, können wir darüber nachdenken und darüber reden, wie es dazu kommen konnte und was daraus für das heutige Selbstverständnis von Justiz folgt. Es sollte aber nicht so sehr darum gehen, was »uns«, die wir heute in Justiz oder Politik tätig sind, diese Ausstellung »bringt«. Vielmehr sollte es um die Opfer von damals gehen, an die wir erinnern und die wir ehren. Wenn die Lehren aus der nationalsozialistischen Zeit für heutige Debatten herangezogen werden sollen, ist große Vorsicht geboten. Und ich sage das nicht nur mit Blick auf die Äußerungen einer ehemaligen Nachrichtensprecherin. Wir stehen heute auf dem festen Boden einer fast 60jährigen demokratischen und rechtsstaatlichen Tradition. Von hier aus gilt es, Rechtsextremismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit nachdrücklich zu bekämpfen, unabhängig davon, dass derartige Einstellungen heute – anders als in Weimar – nicht in der Lage sind, die Grundfesten unseres Staates zu erschüttern.

Eines können wir sicherlich lernen: Dass wir Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte nicht als etwas selbstverständlich Gegebenes nehmen dürfen, sondern als etwas, für dessen Erhalt wir uns tagtäglich einsetzen müssen und das es auch in Zeiten von möglichen Gefahren für unsere Sicherheit zu bewahren gilt. Mehr als jede historische Darstellung ergreift uns die Geschichte, wenn sie am Schicksal einzelner Menschen vermittelt wird. Dann wird uns deutlich, was die alltägliche Tyrannei für die ausgegrenzten und verfolgten Menschen bedeutete. Wie groß das unglaubliche Unrecht war, das ihnen und ihren Familien geschah. Mit welcher Würde aber auch Verzweiflung die Verfolgten ihrer Unterdrückung begegneten. Neben einer ohnmächtigen Wut auf die Verbrecher ist zugleich Trauer, die uns ergreift. Trauer darüber wie viele Lebensmöglichkeiten ein für alle Mal zerstört wurden.

Ich freue mich deshalb ganz besonders, dass Sie, sehr geehrte Frau Hecht-Studnizcka, auch heute an der Ausstellungseröffnung teilnehmen. Sie werden uns nachher aus Ihrem Buch »Als unsichtbare Mauern wuchsen – Eine deutsche Familie unter den Nürnberger Rassengesetzen« vortragen. Einem Buch mit dem Ihnen, und da teile ich die Meinung von Ralph Giordano, »ein Werk von erschütternder Glaubwürdigkeit gelungen« ist.

Vielen Dank!

Rechtsstaat auf dem Boden des Bonner Grundgesetzes bis heute  – Fehlanzeige -.

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