Am 16. Juni 1949 titelte DIE ZEIT „Das Grundgesetz als Prosastück„ von Kurt Hiller, London. Hiller hat den Stil des Bonner Grundgesetzes damals untersucht und hat schon an den ersten 19 Artikeln kein wirklich gutes Haar gelassen.
Auszugsweise schrieb der Literat und Jurist Hiller damals:
Egal, wie man zu seinem staatsrechtlichen Gehalt steht, ob ablehnend (wie Reaktionäre und Kommunisten), ob jubelnd, ob kritisch-kühl mit vielen Jas und etlichen Neins (dies der Standpunkt dessen, der hier spricht) – alle Deutschen von Kultur sollten einig in dem Verlangen sein, daß ihr Grundgesetz, rein als Form, würdig der Nation Goethes laute. Bismarcks Verfassung, 1871, lautete in der Tat so; hatte man noch dreizehn Jahre lang die Ehre, sein Zeitgenosse zu sein, so schämt man sich als Deutscher, und gerade als sozialistischer, das Produkt von Bonn zu lesen.
Dies Verdikt im einzelnen zu begründen, würde man eine Broschüre benötigen; ich beschränke mich daher im folgenden auf Präambel und ersten Abschnitt („Die Grundrechte“): welcher von den 146 Artikeln des Gesetzes 19 umfaßt. Selbst in diesem engen Rahmen liegt mir Vollständigkeit fern; ich begnüge mich mit ein paar Proben.
Der Jurist Kurt Hiller war augenscheinlich kein Gegner des Inhaltes des Bonner Grundgesetzes aber ein aufmerksamer Kritiker seines Stils, auch dazu hier auszugsweise:
„Artikel 1, Absatz 2: „Das deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage (usw.).“ Das klingt, als könnte man sich auch zu verletzlichen und veräußerbaren Menschenrechten bekennen. Gemeint ist: das Volk bekenne sich zu den Menschenrechten als der Grundlage allen Rechtes, und sie seien unverletzlich und unveräußerlich.“
„Artikel 2 stellt für jeden als erstes „das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit“ fest und als zweites „das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“. Eine seltsame Reihenfolge! Denn erst wenn der Persönlichkeit das Recht auf Leben gesichert ist, hat das Postulat Sinn, daß sie sich frei entfalten dürfe. Übrigens schränkt der Artikel das „Recht auf die freie Entfaltung“ bedeutend ein; es stehe der Persönlichkeit nur zu, soweit sie „nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt“. Dieses Grundstatut nimmt also Bezug auf ein Gesetz außerhalb seiner, das „Sittengesetz“. Wer hat es formuliert? Wo steht es nachzulesen? Ich fürchte, in den Archiven sehr vieler Gewissen findet man darüber sehr unterschiedliche Texte! Kant hat uns die Autonomie des Sittengesetzes gelehrt; es gehört also, wünscht man auf Granit und nicht auf Schlamm zu bauen, zwar in die Gemüter der staatlichen Gesetzgeber, nicht aber in den Wortlaut ihrer Gesetze, wo es nur Unklarheit erzeugen und Verwirrung stiften kann.“
„Artikel 5, Absatz 1: „Jeder hat das Recht, … sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten.“ Wenn ich mich nun aus einer ganz verstohlen plätschernden, allgemein unzugänglichen Quelle unterrichten möchte? Das darf ich, scheint’s, nicht. Übrigens habe ich lediglich das Recht, mich „ungehindert“ zu unterrichten, warum nicht auch „gehindert?“ Weshalb mir diesen Spaß vorenthalten?
Absatz 3 desselben Artikels: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.“ Zwei Sätze, die einander widersprechen. Denn wenn Wissenschaft und Forschung frei sind, dann müssen sie zu der Erkenntnis kommen dürfen, daß eine Verfassung (die peruanische oder die deutsche) Fehler hat. Ist die Lehre frei, dann muß sie die Erkenntnis von der Fehlerhaftigkeit der Verfassung vortragen dürfen. Dem widerspricht Satz 2. Sosehr nun das Strafrecht berufen ist, gewaltsame Attacken auf eine Verfassung als Hochverrat unter schwere Bedrohung zu stellen, sowenig ist eine die Freiheit der Wissenschaft, der Forschung und der Lehre statuierende Verfassung selber berechtigt, logisch berechtigt, theoretische oder ideelle „Treue“ zu ihr zu fordern (also gegebenenfalls Heuchelei) und sie zur Bedingung der „Freiheit“, die sie gewährt, zu machen. Das beabsichtigen die Verfasser auch wahrscheinlich gar nicht. Sie haben sich also falsch ausgedrückt!“
Kurt Hiller schloß seinen Artikel u.a. mit den folgenden Sätzen:
„Mag jedes meiner paar Beispiele geringes Gewicht haben – es sind nicht sosehr die unzulänglichen Einzelheiten, die hier, je nach Temperament, amüsieren oder erbittern, wie das Unhelle, Unpräzise, Wolkige, das Muffige und Bürosaure der ganzen Sprache dieses zusammengeschwitzten Opus. Der Entwurf von Herrenchiemsee war hundertmal besser. Da stand zum Beispiel im Anfang: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.“ Mag Eigenlob stinken – ich liebe den Satz (zuerst gedruckt 1922). Das war eine Ausgangsthese für ein Grundgesetz! Warum ließ Carlo Schmid zu, daß diese Sprachbarbaren, diese Formfernen, diese Feinde blitzender Grundsätzlichkeit, diese Spießer sie strichen? Jene These und viele ihresgleichen strichen, um sie durch Dreideutigkeiten, hingestammelte, zu ersetzen, durch lichtlosen Wörterdickicht, durch häßliches Gestrüpp des Selbstwiderspruchs, eine triste Steppe der Antiliteratur, in der keine Quelle springt, es sei denn die der Auslegungsstreitigkeiten, der Rechtsunsicherheit und der sterilen Doktordissertationen.“
Kurt Hiller starb 1972 in Hamburg. Ob er bis dahin noch weitere Artikel zum Bonner Grundgesetz verfasst hat, ist hier nicht bekannt.
Fakt ist, dass das Bonner Grundgesetz 70 Jahre nach seinem Inkrafttretaen am 23.04.1949 noch immer die ranghöchste Rechtsnorm der Bundesrepublik Deutschland ist, jedoch seine eigentliche Wirkweise bis heute seiner wahren Erfüllung harrt, die Rechtsbefehle werden von der bundesdeutschen öffentlichen Gewalt systematisch ignoriert, ausgehöhlt und leerlaufen gelassen, gleiches gilt für die gegen die öffentliche Gewalt unmittelbares Recht bildenden unverletzlichen Grundrechte des Bonner Grundgesetzes.
Rechtsstaat auf dem Boden des Bonner Grundgesetzes denn auch im Jahr 70 von Bundesrepublik Deutschland und Bonner Grundgesetz – Fehlanzeige -.