»Türkisch-Deutsche Begegnungen. Perspektiven für den Rechtsstaat«

»Die drei großen Entwicklungslinien des Grundgesetzes sind in erster Linie eine Lehre aus dieser deutschen Geschichte – und waren in ihren Konturen deshalb bereits vorgeprägt.

* Erstens ist dies die Herrschaft des Rechtes – als Lehre aus der Erfahrung des sogenannten Dritten Reichs als Unrechtsstaat schlechthin,
* zweitens die institutionelle Stärkung der Demokratie – gegen die von zahlreichen schwachen Minderheitsregierungen gebeutelte Weimarer Republik
* und drittens die Anlage einer sozialen Marktwirtschaft.

Insbesondere die Neuerung der Einführung der Herrschaft des Rechts ist im Blick auf die Bedeutung der Grundrechte auch heute noch von entscheidender Bedeutung für unsere Demokratie.

In modernen Demokratien wird staatliche Macht durch ihre Bindung an die Verfassung legitimiert und kontrolliert. Moderne Demokratien sind wiederum Ausdruck des freien Willens aller Menschen, des volonté générale. Nicht aus der Überlegung, dass die Mehrzahl bessere Erkenntnis erlangt, auch nicht aus dem Gleichheitsgedanken, sondern aus der Idee der Freiheit hat Jean-Jacques Rousseau deshalb das Mehrheitsprinzip abgeleitet.

Anders also als in der Weimarer Verfassung, in der die Grundrechte nach Maßgabe der Gesetze garantiert wurden – und damit dem Gesetzgeber überantwortet blieben – bestimmt das Grundgesetz, dass Gesetzgeber, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung an die Grundrechte als über den Gesetzen stehendes, unmittelbar geltendes Recht gebunden sind.

Dieses Anknüpfen an die liberale Tradition des Rechtsstaats und der Grundrechte schuf in Deutschland ein neues Verhältnis zwischen Bürger und Staat. Staatliche Gewalt hat sich nun gegenüber den Bürgern rechtlich auszuweisen zu Legitimieren.« (…)

»Es ist ein Dreiklang, aus dem sich die wehrhafte Demokratie zusammensetzt. Dazu gehören erstens die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger, zweitens die Rechtsvorschriften, die es den demokratischen Institutionen möglich machen, verfassungsfeindliche Bestrebungen zu beobachten und sie gegebenenfalls zu unterbinden. Und drittens das aktive Mitwirken der Menschen am demokratischen Prozess.« (…)

»Meine Damen und Herren,

rechtsstaatliche Strukturen sind das Fundament einer modernen und offenen Gesellschaft und Voraussetzung für Frieden und persönliche Freiheit. Wo das Recht bindende Vorgabe für alles staatliche Handeln ist und wo staatliche Gewalt dem Vorrang des Gesetzes unterworfen ist, sind der Schutz vor Willkür und die Freiheit der Menschen garantiert. Freiheit bedeutet nach meinem Verständnis aber nicht nur ein Abwehrrecht gegen den Staat, sondern beinhaltet auch eine demokratische Mitgestaltungspflicht.« (…)

»Umgekehrt sind formalrechtlich eingeräumte Möglichkeiten demokratischer Partizipation wertlos, wenn sie nicht wahrgenommen werden oder werden können.«

– Rede der Bundesministerin der Justiz Sabine Leutheusser-Schnarrenberger*, MdB an der Istanbul Kültür Üniversitesi »Türkisch-Deutsche Begegnungen. Perspektiven für den Rechtstaat« am 2. November 2012 in Istanbul

*In ihrem Aufsatz „Mut zur Freiheit“ beschrieb sie ihr Verständnis von Freiheit so:

„Freiheit verortet im materiellen Rechtsstaat bedeutet Freiheit vor staatlichen Eingriffen in die Freiheitsgrundrechte der Bürgerinnen und Bürger. Freiheiten also, wie sie in Form der Grundrechte in Deutschland Verfassungsrang besitzen. Freiheitsgrundrechte sind daher zunächst und zuallererst Abwehrrechte des einzelnen gegen freiheitsbeschränkendes staatliches Handeln. Die Verwirklichung dieser Freiheiten hängt in entscheidendem Maße von der Verfasstheit des Staates, genauer von seiner Rechtsstaatlichkeit ab.“

In den Kabinettsprotokollen der ersten Adenauer-Regierung findet sich das dem Bonner Grundgesetz und der Wirkweise der unmittelbares Recht bildenden unverletzlichen Grundrechte zuwider laufende Zitat der Länderinnenministerkonferenz vom 10.08.1950:

»Es sei einmütig erklärt worden, daß bei unveränderter Aufrechterhaltung der im Grundgesetz verankerten Grundrechte durchgreifende Maßnahmen nicht getroffen werden können. Es müsse deshalb eine Änderung des Grundgesetzes in Erwägung gezogen werden.« Gustav Heinemann, 89. Kabinettssitzung am 11. August 1950

Eine dementsprechende Grundgesetzänderung hat zwar nicht stattgefunden, stattdessen hat man sich  der Weimarer Tugenden wohl erinnert und hebelt die Grundrechte einfachgesetzlich und mittels vorsätzlich grundgesetzwidriger Rechtsprechung einfach aus, entsprechend verfängliches Zitat:

»Wir ändern keinen Grundgesetzartikel, aber wir ändern die innere Verfasstheit unserer Republik. Manche sprechen von einer stillen Verfassungsänderung.« Rainer Brüderle (FDP) zur Abstimmung über Euro-Rettungsschirm ESM und ESM-Finanzierungsgesetz, Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – stenographischer Bericht in der 188. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Juni 2012, Seite 22707 (D)

So geht das und die bundesdeutsche Bevölkerung glaubt an den grundgesetzkonformen Rechtsstaat, den es jedoch bis heute nicht gibt, trotzdem hält sie einfach still. Dabei könnte alles so einfach sein, Zitat:

»Für den Bürger eines freiheitlichen Rechtsstaates gibt es im Grunde genommen keine wichtigere Informationsquelle als das Grundgesetz. Dort wird für das politische Handeln des einzelnen, der Parteien und der staatlichen Organe der gültige Rahmen gesetzt; dort wird mit den Grundrechten der freiheitliche Raum des Bürgers gesichert. Nur wer das Grundgesetz kennt, kann alle Chancen an freiheitlicher Mitbestimmung und politischer Mitwirkung nutzen, die unsere Verfassung uns allen anbietet.« Gustav Heinemann, Vorwort zum Grundgesetz, Bonn, den 25. November 1970

Rechtsstaat auf dem Boden des Bonner Grundgesetzes trotzdem seit 69 Jahren – Fehlanzeige -.

 

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.